Bericht zum 29. Kolloquium zur Glockenkunde 2022

Erstmals seit Beginn der Corona-Pandemie trafen sich Sachverständige, Glockengießer, Campanologen und Glockenfreunde wieder in Präsenz zum mehrtägigen Kolloquium zur Glockenkunde, zu dem das Deutsche Glockenmuseum traditionell Anfang Oktober eingeladen hatte.

Vortragssaal im Rathaus in Gescher (Alle Fotos: Sebastian Wamsiedler)

Die etwa 50 Teilnehmer aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und der Schweiz begegneten sich am Standort des Vereins in der Glockenstadt Gescher im westlichen Münsterland, um sich in Form von Vorträgen, Diskussionen und persönlichen Gesprächen über ihre Forschung und Arbeit mit den Glocken auszutauschen. Eingebunden in das Kolloquium war auch eine ganztägige Exkursion sowie praktische Tutorien zur Einführung in die Glocken- und Geläuteinventarisation und die Besichtigung der Glockengießerei Petit und Gebr. Edelbrock in Gescher.
Den Auftakt bildete die Präsentation des neuen 375 Seiten starken Bandes des Jahrbuchs für Glockenkunde, in welchem sowohl Kolloquiumsbeiträge der vergangenen Jahre als auch umfassende wissenschaftliche Aufsätze und wichtige Nachrichten aus der Glockenwelt nachzulesen sind. Den Reigen der Vorträge eröffnete am ersten Abend Dr. Claus Peter, der über das Geläut von St. Dionysius in Rheine, einem der Exkursionsziele des nächsten Tages, referierte. Eine durch ihn veranlasste dendrochronologische Untersuchung am Glockenstuhl hatte zur Folge, dass vollkommen neue Erkenntnisse im Hinblick auf die Baugeschichte der Kirche zutage gefördert wurden und diese in Teilen neu geschrieben werden konnte.

Kolloquiumsteilnehmende in der Kirche Herz Jesu in Rheine
Besichtigung der Glockenanlage von St. Antonius in Rheine

Die ganztägige Exkursion, organisiert und geleitet von Sebastian Schritt, der auch eine ausführliche Exkursionshandreichung zur Verfügung stellte, führte die Teilnehmenden schließlich in die Stadt Rheine. Kennzeichnend für die Geläute dieser Stadt ist eine ungeheure Vielfalt von Glocken aus unterschiedlichem Material wie Bronze und Gussstahl, aber auch historisch bedeutender Glocken des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Das erste Ziel, die Pfarrkirche St. Elisabeth, bot den Teilnehmenden ein typisch münsterländisches Bronzegeläut im Großformat mit Glocken aus der heimischen Gießerei Petit und Gebr. Edelbrock, gegossen in den Jahren 1936, 1953 und 1990 in der Disposition h0-d1-e1-g1. In der Pfarrkirche Herz Jesu wartete im Anschluss ein Gussstahlgeläut des Bochumer Vereins aus dem Jahre 1939, welches in der ersten Oktavrippe mit Sekundschlagton gegossen und später mit einer Grundglocke in V7-Rippe ergänzt worden war. Auch hier war es den Teilnehmenden möglich, im Rahmen eines Turmaufstiegs die Glocken aus nächster Nähe zu betrachten. Trotz der problematischen Klangeigenschaften der Sekundschlagtonrippe konnte das Geläut durch Hängung an geraden Jochen und guter Resonanz als Zeugnis seiner Zeit bestehen. Die Pfarrkirche St. Antonius bot als dritte Station nicht nur aus campanologischer Sicht eine Besonderheit, sondern auch aus architektonischer. Es ist ein kultur- und kunstgeschichtlich höchst bedeutendes Bauwerk, stellt es doch in Ausmaß und Gestaltung eines der wohl aufwendigsten und wichtigsten Beispiele des Kirchenbaus der letzten Phase des Historismus in Deutschland dar. Der über 100 Meter hohe Westturm trägt ein siebenstimmiges Gussstahlgeläut aus dem Jahre 1919 und damit das größte je geschaffene der Gießerei Buderus & Humpert aus Wetzlar mit einer 4.370 kg schweren Grundglocke auf dem Schlagton a0. Auch wenn dieses Geläut aus musikalischer Sicht eher gewöhnungsbedürftig ist, so bildet es doch als zur Originalausstattung gehörig ein höchst eindrucksvolles Zeugnis aus dem Zeitalter der Gussstahlglocken. Bevor den Teilnehmenden Turmaufstieg und Läutevorführung ermöglicht wurde, konnten sich diese aber zunächst bei einem gemeinsamen Mittagsimbiss im Antoniusforum stärken.

Erläuterungen an der Turmuhrenanlage von St. Dionysius in Rheine
Über dem Glockenstuhl von St. Antonius in Rheine

Den Schlusspunkt der Exkursion bildete schließlich der Besuch der Pfarrkirche St. Dionysius. Auch hier führte zunächst Pastoralreferent Matthias Werth aus Rheine wie zu Beginn der Exkursion in St. Elisabeth in die Geschichte des Kirchenbaus mit dessen Ausstattung ein. Im Anschluss gewährte dieser schließlich noch einen Einblick in den Kirchenschatz und präsentierte einige kunsthistorisch wertvolle Stücke, so etwa eine Monstranz (Entstehung vor 1599), ein Gefäß für heilige Öle (vor 1654) und ein bronzenes Löwenaquamanile (1. Hälfte 14. Jahrhundert). Im Anschluss erfolgte der Turmaufstieg, bei dem Dr. Claus Peter jeweils Turmuhr, Glockenstuhl und Glockenbestand noch einmal in realita vorstellte. Der historische Kernbestand  setzt sich zusammen aus einem dreistimmigen Geläut in der Tonfolge c1-d1-e1 (2x 1520 Wolter Westerhues und 1580 von Hans v. Herford/ Teipe Ottinck gegossen), welches 1938 leider tonkorrigiert und damit seiner klanglichen Originalsubstanz beraubt wurde. 1958 erhielt das Geläut eine Ergänzung mit zwei Glocken der Gießerei Feldmann & Marschel mit den Tönen a0 und g1, wobei leider auch massiv in den historisch wertvollen Glockenstuhl eingegriffen und dieser in seiner Originalsubstanz erheblich verändert wurde. Die anschließende Geläutevorführung bildete zugleich das Einläuten zur gemeinsamen ökumenischen Andacht, traditionell geleitet von unserem Mitglied Monsignore Pfarrer Hans Blamm, musikalisch dabei unterstützt von unserem Mitglied Christian Michel an der Orgel und weiteren Teilnehmenden des Kolloquiums, die einzelne Lesungen vortrugen. Nach erfolgreicher Rückkehr klang der Tag schließlich in der örtlichen Gastronomie in Gescher bei einem gemeinsamen Essen und Gesprächen aus.

Besichtigung der Glockenanlage von St. Dionysius in Rheine

Der Sonntagvormittag begann zunächst mit einem Grußwort von Herrn Clemens Kösters, dem Vorsitzenden des Vereins zur Förderung des Glockenmuseums der Stadt Gescher e.V., der unter anderem von vergangenen Veranstaltungen und Entwicklungen rund um unseren Kooperationspartner, das Westfälische Glockenmuseum Gescher, berichtete.
Den Vortragsauftakt gestalteten zwei Referenten, die über die neusten Entwicklungen zweier Domglockenprojekte in Deutschland berichteten. So referierte Martin Groß vom Verein Domglocken Magdeburg e.V. über den aktuellen Stand des Projektes der Erweiterung des dortigen Domgeläuts und konnte Eindrücke vom unmittelbar zuvor erfolgten Glockenguss der zukünftig zweitgrößten Glocke namens AMEMUS, Schlagton g0, wiedergeben. Weiter berichtete er, dass der Guss von weiteren sechs Glockenzum Ende/ Beginn des Jahres folgen werde. Einzig für die projektierte größte Domglocke mit dem Schlagton d0 und einem Gewicht von 14 Tonnen müssten aufgrund der erheblichen Preissteigerungen vor allem beim Material noch weitere Spendenmittel eingeworben werden, um auch diesem Ziel näher zu kommen.
Projektbetreuer Matthias Dichter erläuterte die geplante Erweiterung um zwei Glocken mit den Schlagtönen fis1 und g1 des Bremer Domgeläuts mit Neuguss der großen Domglocke „Brema“ im Schlagton g0. Im Anschluss erfolgte eine lebhafte Diskussion über die Sinnhaftigkeit eines Neugusses dieser Glocke, wobei auch die Befürchtungen aus dem Plenum geäußert wurden, dass diese besondere Nachkriegsgroßglocke der Vernichtung preisgegegeben werden könnte. Der Referent konnte zumindest mitteilen, dass die jetzige Brema nicht unmittelbar als Materialgabe für den Neuguss vernichtet werde, sondern für einen gewissen Zeitraum, der allerdings nicht näher benannt wurde, wohl zum Ankauf und damit zur Rettung der Glocke bereitstünde.

Angebot von praktischen Tutorien zur Stimmgabelanalyse

Nach einer Kaffeepause referierte Dr. Claus Peter über das historische Geläut der Marienkirche in Danzig anhand eines bisher unveröffentlichten Manuskripts des letzten „Oberglöckners“ der Kirche. Der Oberglöckner verantwortete die gesamte Läutemannschaft der Kirche, da bis 1945 das gesamte Geläut ausschließlich händisch bzw. über Tretbohlen zum Erklingen gebracht wurde. Der größte Teil des historischen Geläuts, darunter auch die berühmte „Gratia Dei“, wurde im Zweiten Weltkrieg vernichtet. Lediglich die Glocken „Osanna“ und „Dominicalis“ überlebten auf dem Hamburger Glockenfriedhof und erklingen heute als Leihglocken in Hildesheim und Lübeck.
Andreas Philipp berichtete über die zufällige Neuentdeckung einer Glocke von Geert van Wou in Bad Sooden-Allendorf, die – wie Nachforschungen ergaben – im Jahre 1739 von der Stiftskirche in Möllenbeck (Rinteln) angekauft wurde und seitdem in Hessen, welches nicht zum Arbeitsgebiet des Glockengießers gehörte, erklingt. Über musikalische Fragestellungen bei der Neukonzeptionierung und Erweiterung von Geläuten sprachen Dr. Klaus Hammer und Thomas Uibel, indem sie eindrucksvoll anhand zahlreicher Klangsimulationen den Einsatz verschiedener Rippentypen in einem Geläut vorstellten und dazu aufriefen, den Weg der genormten Klangarmut zu verlassen. Aufgrund eines krankheitsbedingten Ausfalls eines Referenten blieb ein Zeitfenster, in dem mehrere Teilnehmende spontan über das nur eine Woche zuvor stattgefundene 3. Glockensymposium des Europäischen Kompetenzzentrums für Glocken ECC-ProBell® an der Hochschule Kempten mit einem bebilderten Bericht ihre Eindrücke wiedergaben.

Besichtigung der Glockengießerei Petit & Gebr. Edelbrock in Gescher

Der Nachmittag dieses Tages war schließlich wieder der Praxis zugewandt. So hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, sich in Tutorien von maximal zwei Personen in die Glockeninventarisation inklusive Stimmgabelanalyse einweisen zu lassen. Daneben wurden aber auch Führungen in der örtlichen Glockengießerei Petit und Gebr. Edelbrock sowie der Turmbesuch in St. Mariä Himmelfahrt (sechsstimmiges Geläut auf a0) angeboten. Den Abschluss des Tages bildete das Vollgeläut von St. Mariä Himmelfahrt mit der Einladung zur gemeinsamen Vesper in der Kapelle des Marienturmes. Nach einem gemeinsamen Abendessen klang der Abend bei campanologischen Gesprächen schließlich aus.

Der letzte Veranstaltungstag war noch einmal geprägt von Vorträgen über einzelne Glockenprojekte, als auch über musikalische und technische Aspekte von Glocken und ihrem Umfeld. Der Glockengießer Christoph Schmitt referierte mit einem praktischen Werk- und Erfahrungsbericht zu Glockengüssen vor Ort, einem Vorgehen, das im Mittelalter üblich war, da vor allem große Glocken nicht über weite Strecken transportiert werden konnten. So stellte er zahlreiche abgeschlossene Projekte vor und teilte seine bisher gewonnenen Erkenntnisse mit. Dr. Beert Schoofs stellte ein selbst entwickeltes innovatives 20-stimmiges Klangschalenglockenspiel vor. So berechnete er nicht nur die “Rippe“ der Klangschalen mittels FEM-Methode, sondern entwickelte auch eine einstellbare Intonation des Anschlags und demonstrierte dies an einer mitgebrachten Klangschale. Architekt Alwin Bertram stellte zwei praxisnahe Turm-, Glockenstuhl- und Geläutesanierungen in Bingen-Büdesheim sowie in Trebur ausführlich da. Nach zunächst erfolgter Aufnahme eines Schadenskatasters erfolgten jeweils vorbildhafte Sanierungen und teilweise Geläuteergänzungen, die auf Jahrzehnte und Jahrhunderte hin ausgelegt sind.
Den Vortragsabschluss bildete Prof. Dr. Max Klöcker von der Technischen Hochschule Köln der über die Neuaufhängung des Klöppels der Petersglocke des Kölner Domes referierte, die im kommenden Jahr ihren 100. Geburtstag feiern wird. Nachdem der alte Klöppel der einst größten freischwingenden Glocke der Welt 2011 beim Dreikönigsläuten gebrochen und abgestürzt war, erhielt der „decke Pitter“ noch im selben Jahr einen neuen. Da dessen Aufhängung jedoch nicht befriedigte, wurde 2017/18 von der Technischen Hochschule eine neue berechnet.

Neben Vorträgen, praktischen Tutorien und einer Exkursion bot das Kolloquium aber auch in diesem Jahr wieder genug Zeit und Raum für den persönlichen Austausch und die Vernetzung der Teilnehmenden untereinander und machte Lust auf das kommende Kolloquium am 5. und 6. Mai 2023 in Köln.