Seit geraumer Zeit wird nicht selten in aktuellen politischen Diskussionen der öffentliche Ruf des islamischen Muezzin („Es ist kein Gott außer Allah.“ – „Ich bezeuge, daß Mohammed Allahs Gesandter ist.“) als islamisches Pendant zum weltlichen oder kirchlichen Glockenläuten Europas gesehen und bisweilen gleichgesetzt. Deshalb möchte das Deutsche Glockenmuseum auf einen entscheidenden Unterschied aufmerksam machen. Dieser ist inhaltlicher Art: Das nonverbale Glockengeläut war immer und ist für sich ein abstraktes musikalisches Signal, dessen Zweck und Gehalt wie bei einem abstrakten Gemälde der freien individuellen Interpretation unterliegen und das daher keinen Hörer inhaltlich nötigt: Vollkommen unabhängig von einer etwaigen liturgischen Funktion des Läutens oder der Glockeninschrift wird akustisch wahrnehmbar keinerlei explizite weltliche oder religiöse Aussage gemacht. Bestes Beispiel ist neben dem europaverbreiteten Zeitläuten das Läuten prominenter Kirchenglocken wie der Petersglocke des Kölner Domes oder der Erfurter Gloriosa oder das viermal jährlich stattfindende 50stimmige weltliche Große Stadtgeläute der Stadt Frankfurt am Main, deren Erklingen auch konfessionslose, „religiös unmusikalische“ oder ortsfremde Menschen in ihren Bann zieht. Dagegen ist der verbale Muezzinruf – auch in einer ortsfremden Sprache – eine zudem noch politisierbare apodiktische Aussage mit exklusivem Absolutheitsanspruch auch gegenüber Dritten. Ein gleichwertiges Pendant zum öffentlich vorgetragenen Muezzinruf wäre demnach das Singen oder Rufen entsprechend exkludierender christlicher Gebetstexte und Glaubensaussagen vom Kirchturm ggf. mit Hilfe elektronischer Verstärkung in Form von Lautsprechern. Beides verstieße jedenfalls als öffentliche Freiluft-Kundgebung in gleicher Weise gegen die (auch negative) Religionsfreiheit des Grundgesetzes, die zu dessen unveränderlichem Kernbestand gehört und die Glaubensfreiheit aller Gläubigen wie Ungläubigen in gleicher Weise garantiert und schützt.
Dr. Konrad Bund, Wissenschaftlicher Leiter des Deutschen Glockenmuseums e.V.
Das Mitglied unseres Wissenschaftlichen Beirats Dr. Klaus Hammer, Wissenschaftlicher Leiter des Glockenmuseums Stiftskirche Herrenberg, hat sich in einem kurzen Aufsatz intensiv mit dem Vergleich Muezzinruf und Glockengeläut auseinandergesetzt. Seine unten zum Download zur Verfügung stehenden Ausführungen sind zur Lektüre empfohlen.
Der Aufsatz ist veröffentlicht in Nr. 13 unserer Reihe „Schriften aus dem Deutschen Glockenmuseum“: Mensio – Descriptio – Structurarum Analysis – Interpretatio. Eine Festschrift für Konrad Bund zur Vollendung des 70. Lebensjahres, hg. von Rüdiger Pfeiffer-Rupp, Jan Hendrik Stens und Jörg Poettgen (†), Gescher (Westf.) 2015, S. 317-320.
Dr. Klaus Hammer: Kann man den Gebetsruf des islamischen Muezzins mit dem liturgischen Läuten der Kirchen gleichsetzen? Ein Diskussionsbeitrag zu einem aktueller werdenden Thema.