Klangwoge als Krönung – Bericht über das Kolloquium zur Glockenkunde 2019

Klangwoge als Krönung – Rückschau auf das Kolloquium zur Glockenkunde 2019

Ein Bericht von Jan Hendrik Stens
Fotos von Jan Hendrik Stens und Sebastian Wamsiedler

 

Über 70 Campanologen trafen sich Anfang Oktober in Herrenberg zum Kolloquium zur Glockenkunde am Deutschen Glockenmuseum. Ziel war vor allem das dortige Glockenmuseum der Stiftskirche. Eine Exkursion führte die Teilnehmer in das Umland und endete mit einem Glocken-Rekord.

Blick auf die Stiftskirche Herrenberg
Erläuterungen in der Glockenstube der Stiftskirche durch Dekan i.R. D. Eisenhardt und Dr. K. Hammer

Glocken als museale Gegenstände, die aber gleichzeitig liturgische Dienste versehen, das ist das Alleinstellungsmerkmal des Glockenmuseums Stiftskirche Herrenberg. Die 35 zum schwingenden Läuten eingerichteten Glocken und das Carillon im Westbau der Herrenberger Stiftskirche bilden ein Ensemble, das deutschland- und europaweit seinesgleichen sucht. In diesem Jahr war es Dreh- und Angelpunkt des 27. Kolloquiums zur Glockenkunde des Deutschen Glockenmuseums. Üblicherweise wird dieses Treffen von Sachverständigen, Experten und Interessierten am Standort im westfälischen Gescher abgehalten. In regelmäßigen Abständen findet das Kolloquium jedoch auch auswärtig statt, um andere Glockenlandschaften zu erkunden. In diesem Jahr folgten die Teilnehmer einer Einladung des Vereins zur Erhaltung der Stiftskirche Herrenberg e. V., welcher unter anderem das dortige Glockenmuseum unterhält, mit dem das Deutsche Glockenmuseum seit Jahren kooperiert, und der evangelischen Kirchengemeinde Herrenberg.

Die Stiftskirche Herrenberg

Am Anreisetag (03.10.) führte Dr. Klaus Hammer, Kustos des Glockenmuseums Stiftskirche Herrenberg und Dekan i.R. Dieter Eisenhardt, die Kolloquiumsteilnehmer zusammen mit Kunsthistorikerin Dr. Michaela Bautz durch die Stiftskirche und das im Turmaufsatz befindliche Museum. Hier konnten bereits erste Eindrücke gewonnen werden von dem, was die Campanologen in den folgenden Tagen beschäftigen wird. Im Rahmen des Abendvortrags stellte Claus Huber, Glockensachverständiger der Württembergischen Landeskirche, die Glockenlandschaft Schwabens rund um Stuttgart den Zuhörern vor. In Württemberg seien zwar Glocken aller Epochen zu finden, allerdings sei alles etwas kleiner und  bescheidener. Besonders sei die Glockenwiederbeschaffung nach dem Zweiten Weltkrieg im Vergleich zu benachbarten Regionen sparsamer ausgefallen. Daß sich aber doch manches Geläut in Württemberg durchaus hören lassen kann, das bestätigte sich dann am Exkursionstag.

Übergabe der Festschrift an Prof. Dr. R. Pfeiffer-Rupp

Der Kolloquiumsfreitag (04.10.) war der einzige reine Vortragstag, der aber auch dazu diente, die Teilnehmer mit dem für die Exkursion notwendigen Rüstzeug auszustatten. Zuvor wurde aber dem Vorsitzenden des Deutschen Glockenmuseums, Prof. Dr. Rüdiger Pfeiffer-Rupp, die anläßlich seines 70. Geburtstags erschienene Festschrift überreicht. Diese enthält in ihren rund 270 Seiten Beiträge von 17 Autoren, die eindrucksvoll das interdisziplinäre Forschen auf dem Gebiet der Campanologie unter Beweis stellen. Eine weitere Buchveröffentlichung stellte Prof. Dr. Wilfried Setzler, Mitherausgeber der Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte, vor. Vereins- und Vorstandsmitglied Christoph Schapka hatte seine Beiträge zur regionalen Glockenlandschaft im nunmehr zweiten Band zu den Glocken katholischer Kirchen im Landkreis Tübingen herausgeben und damit seine Inventarisationsarbeit vollenden können. Im Anschluss erfolgte der gegenseitige Austausch und die damit verbundene Vertragsunterzeichnung einer Leihgeberschaft von jeweils einer Glocke, die das Deutsche Glockenmuseum (Weitergabe einer Glocke aus der Leihgeberschaft des Nachlasses des Glockengießers Karl Stumpf) mit dem Glockenmuseum der Stiftskirche Herrenberg ausführt.

Vertragsunterzeichnung zur gegenseitigen Leihgeberschaft einer Glocke zwischen DGM und dem Glockenmuseum Stiftskirche Herrenberg

Altdekan Dieter Eisenhardt und Klaus Hammer befaßten sich mit den Intentionen und der Entstehungsgeschichte sowie den Alleinstellungsmerkmalen des Glockenmuseums Stiftskirche Herrenberg. Eisenhardt, der diese Einrichtung als Herrenberger Dekan ins Leben gerufen hatte, bezeichnete Glocken in Zeiten zurückgehenden Gottesdienstbesuchs als „weite Kanzel“ und damit das Glockenmuseum als Chance Menschen zu erreichen, die Kirche und Glauben fernstehen. Hammer stellte das 2012 installierte Carillon der Stiftskirche mitsamt seinen Besonderheiten vor. Denn kennzeichnend für das Glockenspiel sind neben der aufwendigen Glockenzier die drei Progressionen beim Gewicht, beim Zinnanteil und bei der Stimmung. Letzteres wurde vor allem durch die Spreizung der Oktaven und die Entschärfung der Terzentrübung erreicht. Mit ähnlichen, wenngleich auch anderen Methoden wurde die Konzeption des Straubinger Glockenspiels umgesetzt, wovon Heinz-Walter Schmitz berichtete, dessen Vortrag in Abwesenheit verlesen wurde. Um die musikalischen Defizite des bekannten Münchener Rathausglockenspiels nicht zu wiederholen, besteht das Straubinger Glockenspiel aus einem Gemisch von Dur- und Molloktavglocken.

Dr. Klaus Hammer erläutert im Museum

Über Bibliographien und Datenbanken referierten Andreas Philipp und Johannes Wittekind. Philipp stellte anhand von Fallbeispielen dar, wie sich glockenkundliche Beiträge mithilfe des Web-OPACs Bibliographie zur Glockenkunde in Zukunft besser finden lassen. Wittekind stellte die Glocken-Datenbank des Erzbistums Freiburg vor, in welcher neben technischen und musikalischen Daten auch Tonbeispiele einzelner Glocken und Geläuteplena zu finden sind. Daran knüpft die Glockendatenbank des Beratungsausschusses für das deutsche Glockenwesen an. In diesem von der EU geförderten Projekt werden vor allem junge Menschen aufgerufen, sich mit den Glocken in ihrer unmittelbaren Umgebung zu befassen und so das entsprechende Datenmaterial auf den Kirchtürmen zu sammeln und für die Datenbank bereitzustellen.

Teilnehmer studieren den Glockenbestand im Museum

Am Nachmittag bestand für einzelne Kolloquiumsteilnehmer parallel zu den Vorträgen die Möglichkeit, im Rahmen von Tutorien näher an den Gegenstand Glocke herangeführt zu werden. Diese wurden von Dr. Klaus Hammer in der Glockenstube der Stiftskirche durchgeführt. Währenddessen brachte Josef Kral, Glockenreferent der Erzdiözese Salzburg, Tradition und Moderne zusammen. Weil unbezeichnete Glocken aus dem Spätmittelalter fast inflationär dem Salzburger Gießer Jörg Gloppitscher zugeschrieben wurden, ließ Kral die Rippenkonstruktion des Meisters durch 3D-Scanner vermessen, um etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Die sich anschließende Diskussion ergab, daß auch nicht vorhersehbare Ereignisse vor und während des Glockengusses Einfluß auf die Rippenkonstruktion der Glocke haben können. Der Berliner Carilloneur Jeffrey Bossin beleuchtete die Geschichte des Swon im Danilow-Kloster in Moskau, welches Stalin schließen ließ. Bossin hob hervor, daß die oftmals kolportierte Auffassung, fast alle Kirchenglocken seien in der Stalin-Ära vernichtet worden, so gar nicht stimme, sondern daß es von Ort zu Ort unterschiedlich sei. Zu viele historische Glocken habe Bossin in Rußland gesehen.

Der Rottenburger Dom St. Martin

Ideenreichtum und Kreativität brachte Dr. Martin Kares, Glockensachverständiger der Landeskirche Baden, ins Spiel, als er über „kopfstehende Kirchtürme“ sprach. Wenn das Geld für einen im oberen Bereich mit Glocken ausgestatteten Kirchturm nicht ausreiche oder es statische sowie schwingungsdynamische Probleme gebe, dann sei es auch möglich, leichte Turmkonstruktionen zu errichten, bei denen die Glocken so tief wie möglich plaziert sind, so daß der Turm wie eine Schallröhre wirkt und der Klang indirekt abstrahlt. Der positive klangliche Effekt sei aber nur mit einer begrenzten Anzahl an Glocken möglich.

Da die Beiträge der Referenten aus Polen und Weißrußland aufgrund von Abwesenheit entfielen, konnte die Diskussion über aktuelle Glockenthemen zeitlich etwas ausgeweitet werden. Sebastian Wamsiedler moderierte die spontanen Beiträge der Kolloquiumsteilnehmer über den Sachstand zum Brand der Pariser Kathedrale Notre-Dame, die in Polen gegossene Vox Patris-Glocke für Brasilien und das Großprojekt der Erweiterung des Magdeburger Domgeläuts. In Fortsetzung der Berichte über laufende Großprojekte stellte Friedemann Szymanowski den aktuellen Stand vom neu erschaffenen Großgeläute der Leipziger Nikolaikirche vor, das in den nächsten Tagen erstmalig offiziell zu hören sein werde. Im Anschluss berichtete schließlich Jan Hendrik Stens vom Erstgeläut des Grassmayr-Großgeläutes auf c0 für die rumänisch-orthodoxe Kathedrale in Bukarest vom November 2018 und führte eigene eindrucksvolle Videoaufnahmen davon vor.

Blick vom Rottenburger Dom St. Martin

Vor dem Abendessen führte noch Prof. Dr. Hans Schnieders, Glockensachverständiger des Bistums Rottenburg-Stuttgart, in die Exkursion des Folgetages ein und stellte zusammen mit Claus Huber die vier zu hörenden Geläute kurz vor.

Als reiner Exkursionstag reihte sich der Samstag (05.10.) in die Folge der Kolloquiumstage ein. Ein wertvolles historisches Geläut des Hoch- und Spätmittelalters besuchten die Teilnehmer gleich zu Beginn in Altingen (Gemeinde Ammerbuch). Im mächtigen Ostturm der dortigen Kirche St. Magnus hängen drei vergleichsweise kleine Glocken, darunter ein Zuckerhut aus dem 13. Jahrhundert. Das Rottenburger Domgeläut wird vor allem von den vier Rosier-Glocken aus dem Jahr 1649 geprägt, welche eine für diese Zeit enorme Klangqualität und Resonanz aufweisen. Neben den wichtigsten Einzelglocken, dem Rosier-Plenum und zwei Teilkombinationen kam auch für einen kurzen Augenblick das seit der Restaurierung und Erweiterung nunmehr elfstimmige Gesamtgeläut zum Einsatz.

Glockenstube im Rottenburger Dom St. Martin

Am Nachmittag stand das historisch sehr wertvolle und musikalisch hochinteressante Geläut der Tübinger Stiftskirche auf dem Programm. Die sieben dort hängenden Glocken bilden zusammen eine dorische Tonleiter. Leider wurden drei der historischen Glocken des 15. und 17. Jahrhunderts bereits in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts durch Tonkorrekturen den modernen musikalischen Vorstellungen angepaßt und der historische Holzglockenstuhl bei der Ergänzung des Geläuts 1963 durch einen Stahlglockenstuhl ersetzt. Letzte Station der Exkursion vor der Rückfahrt nach Herrenberg war das zur Stadt gehörende Kuppingen. In der dortigen Stephanuskirche hängt als größte Glocke die 1508 von Bernhart Lachamann aus Heilbronn gegossene Osanna sowie eine kleine Glocke aus dem 15. Jahrhundert. Der musikalische Zwischenraum wurde 1951 und 1957 von Alfred Bachert aus Heilbronn und Heinrich Kurtz aus Stuttgart ausgefüllt. Besonders die nicht dem genormten Klang einer modernen Glocke entsprechende Bachert-Glocke wurde von den Zuhörern als Bereicherung des Altbestands empfunden.

Aushang in der Stiftskirche Tübingen
Uhrenkammer der Stiftskirche Tübingen

Mit der Rückkehr nach Herrenberg steuerte der Exkursionstag auf seinen Höhepunkt zu. Im Rahmen eines einstündigen Glockenkonzerts, welches an jedem ersten Samstag eines Monats regulär stattfindet, sollte das Glockenmuseum Stiftskirche Herrenberg in aller Ausführlichkeit vorgestellt werden. Hierzu fanden sich sowohl in der Glockenstube als auch draußen rund um die Stiftskirche neben den Teilnehmern des Kolloquiums viele weitere Interessierte Besucher ein. Dr. Klaus Hammer, der das Konzert leitete und behutsam moderierte, hatte einen Gang durch die Glockengeschichte mit der Entwicklung der Glocke vom akustischen Signalgeber zum liturgischen Musikinstrument im wahrsten Sinne des Wortes minutiös vorbereitet. Einzelglocken mit ihren jeweiligen Klangcharakteristika kamen ebenso zum Einsatz wie historisch, musikalisch oder thematisch zusammenhängende Ensembles. Auch vom Carillon waren immer wieder Einspielungen zu hören, einmal sogar mit einer Improvisation des Liedes „Gib uns Frieden jeden Tag“, welche zum schwingenden Läuten der Mittagsglocke mittels eingelederten Klöppels gespielt wurde.

 

Teilnehmer lauschen den Glocken der Stiftskirche Herrenberg

Dem Konzert schloß sich dann das Geläut sämtlicher 35 in der Turmstube zum schwingenden Läuten eingerichteten Glocken an, welches regulär nicht vorgesehen ist. Aus musikalischen Gründen werden maximal 19 Glocken zusammengeläutet. Im Vorfeld des Kolloquiums kam jedoch der Wunsch auf, den Herrenberger Glockenrekord einmalig aufzustellen, da es wohl weit und breit keinen weiteren Kirchturm gibt, der so viele Läuteglocken besitzt. Dieses im historischen Kontext „Schreckläuten“ (so wurden zu bestimmten Anlässen böse Geister erschreckt und vertrieben) genannte Zusammenläuten aller Glocken erwies sich gerade für die draußen anwesenden Zuhörer als gar nicht so schreckhaft und chaotisch wie befürchtet. Das Cluster der kleinen Glocken schwebte über der diatonischen Reihe der großen, welche dem akustischen Phänomen zu einer gewissen Tonalität verhalf. Die Wirkung dieser Klangwoge mit Rekord-Potential war für nicht wenige Zuhörer nachhaltig. Weil im Verlauf des Konzerts die Klöppelaufhängung einer kleinen Glocke schadhaft war und somit für das „Schreckläuten“ nur noch 34 Glocken im Turm zur Verfügung standen, fiel kurzzeitig noch die Segensglocke im Dachreiter mit ein, so daß am Ende dann doch 35 Glocken zu hören waren.

Schalttafel für 35 Glocken in der Stiftskirche Herrenberg

Am Sonntagmorgen (06.10.) feierten die Teilnehmer des Kolloquiums zusammen mit der Ev. Kirchengemeinde Herrenberg einen ökumenischen Gottesdienst in der Stiftskirche, der musikalisch von der Kantorei unter der Leitung von Ulrich Feige mitgestaltet wurde. Die Liturgie leitete Dekan Eberhard Feucht. Die Predigt teilten sich Altdekan Dieter Eisenhardt und Msgr. Hans Blamm aus Offenbach. Sie hoben jeweils die Bedeutung der Glocke für Gesellschaft, Kultur und Religion hervor und ermunterten zu den verschiedenen mit dem Läuten verbundenen Gebeten.

Turm der Stiftskirche Herrenberg

Nach dem obligatorischen Kolloquiumsphoto vor dem Hauptportal der Stiftskirche ging der Vortragsreigen im Gemeindehaus in den Endspurt. Prof. Dr. Winfried Humpert, Nachfahre des Briloner Glockengießers Heinrich Humpert, stellte eine neue Buchveröffentlichung über die von Albert Junker sen. übernommene und weiterentwickelte Gießerei im Sauerland vor. Danach befaßten sich Prof. Dr. Rüdiger Pfeiffer-Rupp und Thomas Uibel jeweils noch mit musikalischen Themen. Während Pfeiffer-Rupp eine Klangbildsimulation des Herrenberger Geläutes mit der bislang neben der Stiftskirche abgestellten Maxima vorlegte, befaßte sich Uibel mit Residualtonbildungen, welche er mit Hilfe eines von ihm entwickelten Tools demonstrierte.

Glockenstube Stiftskirche Herrenberg

Die Schlußdiskussion zeigte eine große Zufriedenheit der Teilnehmer mit dem Verlauf des Herrenberger Kolloquiums. Dank wurde neben den Organisatoren vor allem dem Verein zur Erhaltung der Stiftskirche Herrenberg e.V. und seinem Vorsitzenden Burkhard Hoffmann ausgesprochen, der vor und während des gesamten Kolloquiums unermüdlich im Einsatz war und damit die weiteren Beteiligten maßgeblich unterstützte. Nach dem Mittagessen hieß es dann Abschiednehmen bis zum nächsten Jahr. Für Interessierte schloß sich noch eine zusätzliche Exkursion nach Stuttgart am Nachmittag an. In diesem Rahmen wurden Glocken der Hospital- und der Stiftskirche gehört und vom Westturm der Stiftskirche auf die im Stuttgarter Talkessel liegende Stadt geschaut.

 

Gruppenfoto der Kolloquiumsteilnehmer (nicht vollständig)

 

Nachstehend sehen Sie einige Videos von Teilnehmern am Kolloquium zur Glockenkunde